Wolfgang Ullrich

Philip Wiegards Ethik des Kooperierens

 

Dass künstlerische Arbeit mehr umfasst als das, was in einem Ausstellungsraum als Werk oder Aktion zu sehen ist, versteht sich von selbst. Genauso gehören etwa Interviews, Auftritte, Projektentwicklungen und Finanzie-rungsstrategien dazu. Doch heute genügt auch das nicht. Vielmehr haben sich Selbstverständnis und Rolle von Künstler:innen geändert. Viele beanspruchen keinen erhabenen Sonderstatus mehr, sind dafür gut vernetzt und nutzen gerne das Know-how anderer Bereiche. Das aber macht Werkprozesse komplizierter, denn statt mit einem geradezu absolutistischen Gestus, im Bewusstsein völliger Unabhängigkeit auftreten zu können, hat man dann als Künstler:in Rücksicht zu nehmen auf jene, mit denen man interagiert. Und je überzeugter man davon ist, dass alle Beteiligten grundsätzlich gleichberechtigt sind, desto wichtiger wird eine Idee von Fairness. Künstlerische Arbeit besteht dann nicht zuletzt darin, immer wieder auszuhandeln, was für alle fair ist. Es geht um eine Ethik des Kooperierens.

 

Für Philip Wiegards Arbeit ist eine solche Ethik zentral. Sie bildet die Grundlage seiner Projekte und spielt sich auch nicht nur im Backstagebereich ab. Denn da Wiegard Werkformen aufgreift, die mit Handwerk und Hobby assoziiert sind, sich also in eine Tradition der ‚Appropriation Art’ stellt, sind die Beiträge anderer Menschen immer ausdrücklich Gegenstand seiner Kunst. Tapeten aus Kleisterpapieren — dies eine vormoderne, fast ausgestorbene Technik — erstellt er etwa in Workshops mit Kindern, die an den repetitiven Abläufen der Mustererzeugung oft besonderen Spaß haben. Dass er sie für ihre Tätigkeit bezahlt, ist aber nicht nur als Ausdruck von Wertschätzung zu deuten, sondern soll zugleich die kritische Frage aufwerfen,
ob mit der Rückkehr einer alten Technik auch die an sich überwundene Kinderarbeit zurückkehrt. Und werden jetzt sogar schon Kinder gänzlich der Logik der Ökonomie unterworfen?

 

Wiegard will also eine Debatte darüber eröffnen, was einer Idee von Fairness am ehesten entsprechen könnte. Vielleicht wäre es ja fairer, die Kinder nicht zu entlohnen, dafür aber bei Ausstellungen mit den Kleistertapeten ihre Namen aufzuführen und sie so als stolze Mitwirkende zu würdigen? Oder wäre es nicht besser, er würde ihnen für ihren Einsatz in den Workshops auch Spielraum für freie Experimente mit den Materialien lassen? Indem er solche Fragen von Projekt zu Projekt neu stellt und auch immer wieder neu beantwortet, also kein festes Schema hat, mit dem er Beteiligte abfindet, macht er das Thema ‚Fairness’ umso präsenter. Anders als etwa Santiago Sierra, der sich in seinen Aktionen auf Kritik an ausbeutenden Formen der Entlohnung beschränkt, indem er Missstände sichtbar macht, die Ausbeutung dabei aber auch — nicht unproblematisch — reproduziert, gestaltet Philip Wiegard eigene Standards für Zusammenarbeit.

 

Dass es ihm dabei keineswegs nur um Fragen der Honorierung geht, wird an seinen Arbeiten mit der in verschiedenen Hobbyszenen beliebten Modelliermasse FIMO deutlich. Sofern Wiegard hier ein Material verwendet, das bisher denkbar weit von jeglicher ‚Kunstwürde’ entfernt war, ja mit dem üblicherweise Kunstgewerbliches produziert wird, hat er es mit Artefakten von Leuten zu tun, die traditionell (genauso wie Kinder) einen viel niedrigeren Status als Künstler:innen innehaben. Umso schwerer ist es, ein faires, auf Ausgleich und Gleichberechtigung bedachtes Handeln zu realisieren.

 

 

Künstler wie Roy Lichtenstein oder Richard Prince, die sich für ihre ‚Appropriation Art’ bei ähnlich kunstfernen Ästhetiken etwa von Comic-Zeichnern oder aus der Motorrad-Szene bedienten, waren noch zu stark auf jenen absolutistischen Kunstgestus ausgerichtet, um sich auch nur Gedanken über deren gerechte Beteiligung zu machen. Sie fragten nicht einmal, ob sie etwas verwenden durften, und selbst wenn die Betroffenen im Nachhinein Ansprüche anmeldeten, verweigerten sie jegliche Anerkennung, ja sahen in allem außer- und unterhalb der Kunst offenbar Freiwild, über das sie beliebig verfügen durften.

 

Dazu, dass ein solches Verhalten mittlerweile zunehmend als Arroganz und Klassismus (dis)qualifiziert wird, dürfte Philip Wiegards Arbeitsweise weiter beitragen. So integriert er die größeren oder kleineren Stars der FIMO-Community, deren Motive er interessant findet, von Anfang an in seine Werkprozesse; er klärt, unter welchen Bedingungen er ihre Arbeit nutzen kann, macht Vorschläge, wie er sie an möglichen Einnahmen beteiligt, und schließt sogar Leihverträge, wenn er ihre Objekte ausstellen will. Damit aber nicht genug. Vielmehr ist es Wiegard auch wichtig, dass er nicht wie ein Eroberer in der Szene der Clayer wahrgenommen wird, der selbstherrlich entscheidet, was ihm gefällt, wen er pusht und was er links liegen lässt. Deshalb begann er, selbst mit FIMO zu arbeiten; er schaute sich Tutorials an, um von den Profis zu lernen, und bietet, seit auch er Profi ist, seinerseits Tutorials an, in denen er seine Techniken und Tricks im Umgang mit dem Material vorführt. Dank YouTube und TikTok, wo Wiegard seine Tutorials postet, ist er inzwischen selbst ein Star unter den Clayern: voll in die Szene integriert — kein Fremdling, den man beargwöhnt oder dem man sinistre Interessen unterstellen könnte.

 

Dass er Artefakte aus FIMO nicht nur übernimmt, sondern sein Wissen über die Modelliermasse weitergeben kann, eröffnet ihm noch weitere Möglichkeiten. So besteht die Arbeit „Sunset Suites“ (2021) aus einer Serie von FIMO-Bildern, die Clayer nach einem Tutorial von Wiegard angefertigt haben und in denen sich zeigt, wie kreativ sie das von ihm gelernte Motiv einer untergehenden Sonne einsetzen. Wenn Wiegard diese Bilder ausstellt, wechselt er nochmals die Rolle und wird vom Lehrer zum Kurator, der den Urheber:innen Aufmerksamkeit in der Kunstwelt verschafft. Statt ihren Arbeiten dort aber, wie in der Tradition der ‚Appropriation Art’ üblich, nur einen Exoten-Status zu verpassen, der es dem Kunstpublikum erlaubt, die vermeintliche eigene Geschmacksüberlegenheit zu genießen, tut er alles dafür, dass sie in ihren formalen Qualitäten geschätzt, als Bereicherung für die zeitgenössische Kunst empfunden werden.

 

Wie ernst Wiegard das nimmt, beweist er nicht zuletzt damit, dass er für einige seiner FIMO-Bilder eine Kooperation mit Clayern aus der Community eingegangen ist. Deren Motive oder auch Effekte, die er in ihren Workshops gelernt hat, sind gleichberechtigter, manchmal sogar visuell dominanter Teil der Bilder, ihre Urheberschaft ist in den Werkangaben eigens vermerkt. In einigen Fällen, in denen er ihre Parts kompositionell klar von den übrigen Partien abgrenzt, könnte man sogar darauf kommen, dass jene ähnlich wie Stifterfiguren in mittelalterlichen Gemälden in Szene gesetzt sind: als Elemente einer anderen Wirklichkeit, die das Bild aber erst ermöglichen und nun in ihm gewürdigt werden.

 

Auf diese Weise gelangt Philip Wiegards Ethik des Kooperierens nicht nur zu einem eindrucksvollen Höhepunkt, sondern manifestiert sich auch in den Werken selbst. Und je mehr diese Ethik darüber hinausgeht, nur eine prozedurale Angelegenheit im Hintergrund der künstlerischen Arbeit zu sein, desto klarer steht sie im Kontrast zur oft rücksichtslosen Moderne. Exemplarisch repräsentiert Wiegard einen neuen Künstlertypus, der von der Einsicht geprägt ist, dass man den Menschen oder Bereichen, von denen man etwas bezieht, etwas zurückzugeben hat. Fairness meint damit zugleich Nachhaltigkeit, ja die Ethik des Kooperierens folgt einem ökologischen Denken in Kreisläufen und Zusammenhängen. Heute Künstler:in zu sein, heißt, diese zu etablieren und auf diese Weise einseitige und ungerechte Verhältnisse zu überwinden.